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Das System Kita neu denken

Als Seiteneinsteigerin in den Kindergarten: Melanie Nickel liebt die Arbeit mit ihren „Neddelradspatzen“

Praktiker fordern, in Mecklenburg-Vorpommern nach der Kostenfreiheit endlich die Personalausstattung in den Blick zu nehmen

Mehr Frust geht kaum: „Leider wird von Seiten der Entscheidungsträger übersehen, dass es eine Verbindung zwischen geforderten Bildungsangeboten und den verfügbaren Personalressourcen gibt und durch die gegebenen Rahmenbedingungen kaum gute qualitative, sondern nur quantitative Betreuung ermöglicht werden kann. Und die Politik, Entscheidungsträger und Öffentlichkeit verlassen sich darauf und meinen ,Na, geht doch trotzdem‘“.
Das Statement einer 60-jährigen Kita-Leiterin ist, wie auch die anderen Stellungnahmen, aus denen wir auf dieser Seite zitieren, in der Oktoberausgabe des Bildungsmagazins „E & W“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft nachzulesen. Die GEW hatte ihre Mitglieder in Mecklenburg-Vorpommern aufgefordert zu schreiben, wie sie ihren Arbeitsalltag erleben – und was sich ändern muss. Die Ergebnisse will die Gewerkschaft an die künftige Regierungskoalition im Land weiterleiten. Ziel müsse eine Bildungspolitik sein, die allen Beschäftigten und Kindern positive Zukunftsaussichten bietet und dabei niemanden zurücklässt, so die GEW-Landesvorsitzenden Annett Lindner und Maik Walm. So wie bisher könne und dürfe es in den Kitas in MV nicht weitergehen.

Das meinen im Vorfeld der für morgen geplanten Koalitionsgespräche zum Themenkomplex Soziales auch andere. „Wer es ehrlich meint mit der Bildung unserer Kinder, muss für mehr Personal in Kitas sorgen“, appellieren beispielsweise die in der Liga zusammengeschlossenen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege an die Verhandlungspartner von SPD und Linken. Die Sozialdemokraten hätten in ihrem Wahlprogramm einen landesweit einheitlichen gesetzlichen Mindestpersonalschlüssel versprochen, der schrittweise erhöht werden soll, erinnert Liga-Vorsitzender Steffen Feldmann. Vertreter der Linken hätten sich immer wieder betroffen gezeigt von den Bedingungen in den Kitas. „Nun ist es an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln“, betont er.

Zwar hat die bisherige rot-schwarze Landesregierung Anfang 2020 als erste die komplette Elternbeitragsfreiheit in der Kita eingeführt. Doch Kritiker hatten schon damals angemahnt, die Qualität der Betreuung nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Bertelsmann Stiftung hat zwar im August dieses Jahres in ihrem Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme konstatiert, dass sich die Personalausstattung in Mecklenburg-Vorpommerns Kindergartengruppen zwischen 2013 und 2020 erheblich verbessert hat. Eine vollzeitbeschäftigte Kraft sei rein rechnerisch statt für 14,9 im Jahr 2013 sieben Jahre später nur noch für 12,9 Kinder zuständig. Trotzdem hätten Kinder hier noch immer deutlich schlechtere Bildungschancen als in Westdeutschland, wenn man den Personalschlüssel zugrunde legt. Denn eine Fachkraft in MV müsse rechnerisch fast fünf Kindergartenkinder mehr als im Westen betreuen. Für 96 Prozent der Kinder in Kita-Gruppen ist die Personalausstattung nach wissenschaftlichen Empfehlungen nicht kindgerecht. In Westdeutschland gilt dies nur für rund 68 Prozent.

Diesen Unterschied könne auch das weitgehend bedarfsdeckende Angebot an Kita-Plätzen in MV nicht wett machen, das in der Tat besser sei als in allen anderen Bundesländern, betonten die Studienautoren. Denn Qualität in der frühkindlichen Bildung definiere sich aus beiden Faktoren: einem ausreichenden Platzangebot und einer ausreichenden Personalausstattung. Der Bund hätte mit seinem „Gute-Kita-Gesetz“ beides fördern wollen, in MV seien die Mittel daraus aber ausschließlich in die beitragsfreie Kita geflossen, rügte die Stiftung.

Um bis 2030 zumindest das heutige durchschnittliche Personalniveau der West-Länder zu erreichen, müsste MV 2000 Erzieherinnen und Erzieher mehr einstellen, als bis dahin hier im Land ausgebildet werden. Für eine kindgerechte Personalausstattung nach wissenschaftlichen Empfehlungen würden sogar rund 5000 Erzieherinnen zusätzlich benötigt. Diese Lücke sei bis 2030 weder durch die Aufstockung der Ausbildungskapazitäten zu schließen, noch ließen sich bis dahin genügend Quereinsteiger gewinnen und pädagogisch qualifizieren, konstatierte Bertelsmann.

Ines Müller, Fachbereichsleiterin Kindertagesstätten im DRK-Kreisverband Parchim, fordert daher: „Wir müssen das System Kita ganz neu denken.“ Die pädagogischen Bedürfnisse müssten neu bewertet und daraus neue Berufsfelder abgeleitet werden. Ja, es müsse auch weiter Fachkräfte geben. Es müsse in Kitas sogar noch höher qualifiziertes Personal als bislang eingesetzt werden, findet die Praktikerin, beispielsweise Absolventen des Studienganges Early Education (Frühe Bildung bzw. Pädagogik der Kindheit), die die Hochschule Neubrandenburg sogar im eigenen Land ausbildet. Vor allem aber müsse der Fachkräftebegriff weiter gefasst werden. „Durch den Einsatz von Sozialassistenten würden wir mehr Hände gewinnen, die sich um die Kleinen kümmern“, meint Ines Müller. Alltagshelfer könnten Erzieherinnen und Erzieher entlasten, genauso wie engagierte Ruheständler. Auch Kinderpfleger würde sie verstärkt in Kitas einsetzen wollen – vor allem im Krippenbereich. Der Grund: „Mit einer Fachkraft-Kind-Relation von 1:6, wie wir sie jetzt in der Krippe haben, können wir den Bedürfnissen der unter 3-Jährigen nie und nimmer gerecht werden.“ Denn diese Bedürfnisse würden sich auch bei so kleinen Kindern nicht allein auf körperliches Wohlbefinden und Trost beschränken. Auch sie benötigten Kommunikation, Anregung, Förderung.

„Nicht die Kinder müssen funktionieren, sondern wir“, betont die Fachfrau. Zurzeit sei es so, dass „satt und sauber“ gelinge – aber vielfach auch nicht mehr. „Wir sind aber nicht nur Aufbewahrungsstätten. Wir wollen die Kinder fördern, ihnen etwas beibringen – denn wir haben auch schon in der Kita einen eigenständigen Bildungsauftrag.“ Allerdings könne man nicht nur zur Politik sagen: „Jetzt macht ihr mal“, Einrichtungen und Träger würden auch selbst Verantwortung tragen, betont Ines Müller. Ausbildung zum Beispiel müsse für alle Träger eine Selbstverständlichkeit sein, findet sie. Das DRK im Landkreis Parchim setzt dabei verstärkt auch auf die berufsbegleitende Ausbildung von lebenserfahrenen Frauen und Männern, die sich erst im zweiten Anlauf für die Arbeit mit Kindern entscheiden. So wie Melanie Nickel. Die gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte hat mit Mitte 30 noch einmal umgesattelt, im kommenden Jahr wird sie ihren Abschluss als staatlich anerkannte Erzieherin machen. Schon vom Anfang ihrer Ausbildung an wird sie in der Banzkower DRK-Kneipp-Kita „Neddelradspatzen“ aber als vollwertige Erzieherin eingesetzt – und bezahlt. „Das ist natürlich Motivation“, meint die zweifache Mutter, die die vier harten Lehrjahre, in denen sie regelmäßig donnerstags und sonnabends die Schulbank drückt, nur mit Hilfe ihrer Familie übersteht – und mit der Rückendeckung durch ihren Arbeitgeber. „Wir wollen und müssen unsere Mitarbeiter schließlich an uns binden“, erklärt Ines Müller. Von Januar 2022 an bezahle das DRK aus diesem Grund auch nach dem Tarifniveau des öffentlichen Dienstes..

Für die GEW ist eine flächendeckende faire Bezahlung indes nur eine Facette auf dem Weg zu Verbesserungen in den Kitas des Landes. Am wichtigsten ist ihr, dass die neue Landesregierung für einen landesweit einheitlichen, gesetzlichen Mindestpersonalschlüssel sorgt, der ausreichend bemessen ist und das Kindeswohl präventiv schützt.

Ich arbeite seit sechs Jahren in einer Krippengruppe. Der Alltag sieht meistens so aus, dass im Durchschnitt 16 von 18 Kindern anwesend sind. Oft arbeiten wir nur zu zweit in der Gruppe mit den 0-3-Jährigen. Das kommt daher, weil Kollegen durch Krankheit ausfallen, Urlaub haben, sich auf Weiterbildung befinden oder durch ihre Wochenarbeitsstunden und Dienstabdeckung später zur Arbeit erschienen…“

Erzieherin Krippe (34)

In meiner Ausbildung habe ich gelernt, individuell auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes der Gruppe einzugehen, attraktive Bildungsinteraktionen für sie zu gestalten und diesen so wichtigen Weg vom Erkunden und Lernen professionell zu dokumentieren. Doch leider sieht die Realität in der Kindertagesstätte ganz anders aus. Es ist kaum Zeit, jedes einzelne Kind aus einer der überfüllten Gruppen in seiner Individualität wahrzunehmen, geschweige denn qualitativ hochwertige Bildungsinteraktionen zu planen oder die persönlichen Entwicklungsschritte im Portfolio zu dokumentieren. Alles muss immer ganz schnell gehen, egal ob die Qualität darunter leidet…“

Erzieher (19 )

Die drei größten Probleme liegen aus meiner Sicht in der fehlenden Wertschätzung des Berufs, dem hohen Betreuungsschlüssel und dem Fachkräftemangel.“

Kita-Erzieherin

Quelle: SVZ / 04.11.2021

Text: Karin Koslik

Foto: Volker Bohlmann